Ein Dichter zum Anfassen

Wie hält man diese ganze Info-Flut in den sozialen Medien aus? Das wollte der Nettetaler Autor und Verleger Dinçer Güçyeter von den Schülern der Gesamtschule wissen. Rund 50 Schüler der Leistungskurse Deutsch, mehrere Lehrer und Gäste waren am frühen Abend zur Lesung und zum Gespräch mit dem Autor in die Mensa der Schule gekommen. Burak, Schüler der 13. Jahrgangsstufe, erklärte es so: „Wenn man eine Stunde Tiktok schaut, hat man so viel Dopamin im Blut wie ein Neandertaler in seinem ganzen Leben.“ Das sehen die Jugendlichen durchaus kritisch.

Am Montag und am Mittwoch hatte Güçyeter den Unterricht von der sechsten bis elften Stufe besucht. Das Projekt und die Lesung hatte die Unterstützung der Volkshochschule Kreis Viersen ermöglicht. Der in Nettetal geborene und lebende Autor erhielt für seinen Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ (2021) den Peter-Huchel-Preis und für seinen ersten Roman „Unser Deutschlandmärchen“ (2022) den Preis der Leipziger Buchmesse. Aus beiden Werken las er kurze Passagen in der Mensa vor, bevor er mit Schülern verschiedener Stufen ins Gespräch kam.

Das Publikum erlebte einen geerdeten, bescheiden gebliebenen Autor, der schnell einen guten Draht zu den Zuhörern aufbaute. Die Feststellung, 1000 Euro für eine Lesung sei zu viel Geld, amüsierte ihn. Diese Honorare handeln die Verlage aus, und mit Steuern und Krankenkasse haben die Schüler auch noch nichts am Hut. Die meisten Buchhandlungen können sich solche Sätze nicht leisten. Güçyeter gab zu, auch für weniger Geld zu lesen. 15 Jahre lang habe er für lau gelesen, um überhaupt seine Texte einem Publikum vortragen zu können.

Auf die Frage nach seiner Heimat antwortete der Autor klar: „Ich bin in Nettetal geboren. Ich bin mit zwei Sprachen aufgewachsen, zu Hause wurde Türkisch gesprochen, draußen in Lobberich Deutsch“. Die deutsche Sprache sei sein Handwerkszeug, damit müsse er auskommen, aber seine eigene Zweisprachigkeit sieht er als ein großes Geschenk: Man bleibe flexibel und könne in zwei Welten kommunizieren. Adrian, ebenfalls Schüler der 13. Stufe, wollte wissen, wie er zum Dichter wurde. Die Antwort war „Widerstand und Beharrungsvermögen“. In der Kneipe seines Vaters begann er, Liedtexte auf die Bierdeckel zu schreiben. Erst mit 20 entstanden eigene Texte, die er später alle wieder vernichtet habe. Mitte 30 habe er seine eigene Stimme gefunden, sagt der 44-Jährige. In die Türkei fliegt Güçyeter, um Verwandte zu besuchen, Urlaub zu machen und um in Ruhe und Abgeschiedenheit in den Bergen der Ägäis zu schreiben. Aber man sollte auch immer ein Rückflugticket in der Tasche haben. „Als Dichter ist man nirgends zu Hause“, gab er zu bedenken.

Eine Riesenüberraschung war die Schülerin Benedicta, die selbst schon Texte geschrieben hat. Abends habe sie ihre Gedanken einfach aufgeschrieben. Bisher habe sie eher wenig gelesen, Songtexte inspirierten sie da mehr. Vom Handy las sie einen Text ab und erntete Riesenapplaus. Schulleiter Leo Gielkens und Deutschlehrerin Julietta Breuer waren begeistert. „Wir haben ganz tolle Schüler hier auf der Bühne“, lobte Gielkens am Schluss. Und Dinçer Güçyeter, selber Vater zweier Kinder, zog nach dem Schulbesuch das Fazit, diese neue Generation denke und handele ganz anders. Im Vergleich zu früher habe die Jugend heute das beste Leben, das man haben könne.

Autor: Heribert Brinkmann // Rheinische Post 20.10.2023
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